Whangarei, Februar 1920

 

Vivian wohnte nun schon fast eine Woche bei Matui. Er hatte zu ihrer großen Verwunderung nicht ein einziges Mal nachgefragt, warum sie allein auf den Berg zurückgekommen war. Nein, er hatte sich nicht nach Freds Verbleib erkundigt, sondern weitererzählt, als wäre nichts geschehen. Abgesehen von der Traurigkeit, die Makeres Schicksal in ihr ausgelöst hatte, fühlte sie sich wohl auf dem Berg. Ihr war so, als sei sie hier oben in einer magischen Welt gefangen, die ihr Kraft verlieh. Sie wollte gar nicht fort. Immer wenn sie zum Aussichtspunkt ging, um den Blick über Whangarei schweifen zu lassen, spürte sie deutlich, dass sie dort unten nicht zu Hause sein konnte, bevor sie alles erfahren hatte. Aber auch London war weit, weit weg. Sie konnte sich schwerlich vorstellen, in nicht allzu ferner Zukunft wieder in das geschäftige Leben der großen Stadt einzutauchen. Vor allem, da sie inzwischen nahezu die Gewissheit besaß, dass ihre Ahnen keine Geringeren waren als Matui und Makere, dass in ihren Adern Maori-Blut floss und dieses Land, auf dem sie stand, auch ihr Land war. Natürlich war sie gespannt darauf zu erfahren, was mit dem Baby geschehen war. Doch sie fragte ihn nicht. Sie brauchte ihn auch nicht mehr zu fragen, ob er jener Matui aus der Geschichte war. Sie wusste es. Wie alt er auch war und ob es an ein Wunder grenzte, dieser alte Mann war Matui Hone Heke, der Ziehsohn von Reverend Walter Carrington. Und Vivian konnte, nach allem, was sie inzwischen über diesen Mann erfahren hatte, nur allzu gut verstehen, dass Matui es nicht ertrug, wenn diesem Mann vor der Kirche ein Denkmal gesetzt würde.

  Das alles ging ihr durch den Kopf, während sie auf der Veranda in einem alten Schaukelstuhl saß und vor sich hin döste. Die Mittagshitze brannte hier oben besonders heftig auf die Köpfe hernieder, sodass jede Bewegung anstrengend war. Matui zog sich um diese Zeit stets in sein Haus zurück und machte einen Mittagsschlaf, während sie die Ruhe an der frischen Luft bevorzugte. Dabei leistete ihr häufig der Hund Gesellschaft, der, wie sie inzwischen wusste, jener alten Maori gehörte, die sie gleichbleibend freundlich anlächelte, aber kein Wort Englisch verstand. Sie gehörte wie Matui zu einigen der Letzten, die überhaupt noch auf dem Parahaki lebten. Matui hatte ihr erzählt, dass man in Whan-garei darauf wartete, bis der Letzte von ihnen bei den Ahnen war, um das Gelände für andere Zwecke zu nutzen. Sie freute sich, als sie an ihrer Hand etwas Weiches, Warmes verspürte. Es war der Hund, der ihre Aufmerksamkeit verlangte. Inbrünstig streichelte sie ihm über das dichte Fell.

  Doch selbst das war ihr zu anstrengend, sodass sie ihre Hand fortzog und mit geschlossenen Augen weiterträumte. Auch dem Hund schien die Hitze zu missfallen, denn er hechelte nun unüberhörbar und verkroch sich unter einem Stuhl.

  Plötzlich wanderten ihre Gedanken zu Fred, und sie empfand keine Bitterkeit mehr. Im Gegenteil, sie konnte inzwischen sogar verstehen, dass er sein angenehmes Leben nicht so einfach von heute auf morgen hatte aufgeben wollen. Sie verspürte auch keinerlei Groll auf ihn, weil er im Gegensatz zu ihr in Wohlstand groß geworden war. Der Preis war zu hoch, als dass sie hätte mit ihm tauschen mögen. Niemals würde sie in diesem undurchsichtigen Gewirr aus Lügen leben wollen. Welch ein Geschenk des Lebens, das ihr doch durch Matui zuteilwurde, weil er ihr die ganze Wahrheit sagte! Die einzige Sorge, die sie seit einigen Nächten quälte, war die, ob sie wirklich wieder nach London zurückkehren sollte. Der Gedanke, das nächste Schiff zu besteigen, lag ihr jedenfalls ferner denn je. Sie hatte ein paarmal geträumt, dass sie bereits auf einem Dampfer unterwegs nach Hause gewesen war, doch im Hafen von Auckland von Bord gesprungen und wohlbehalten in dem unglaublich grünen Wasser gelandet war. Unwillkürlich lächelte sie in sich hinein, doch dann wurde sie wieder ernst. Aber was sollte sie hier allein? Denn dass sie niemals in das Haus des Bischofs zurückkehren würde, war das Einzige, was sie sicher wusste. Sie stieß einen tiefen Seufzer aus.

  »So schwer?«, fragte eine Stimme, die Vivian entfernt bekannt vorkam und die sie aus ihren Gedanken riss. Sie schreckte hoch und blickte in das verlegen grinsende Gesicht von Ben Schneider.

  »Na, Sie haben ja vielleicht Mut, sich herzuwagen, nach allem, was Sie sich geleistet haben«, fauchte Vivian ihn an.

  Sein Grinsen verschwand und wich der Verlegenheit. Er trat von einem Fuß auf den anderen.

  »Hat es Ihnen die Sprache verschlagen? Sie sind doch sonst mit ihrem Mundwerk immer ganz vorn«, setzte sie bissig hinzu.

  »Ich wollte mich bei Ihnen entschuldigen und möchte Sie zur Versöhnung zu einem kleinen Ausflug nach Russell einladen.«

  »Warum? Um mich auszufragen? Über Matui Hone Heke und seine Motive, warum er statt des Bischofs eine Frau geschnitzt hat?«

  »Nein«, erwiderte der junge Mann gequält. »Ich will nichts mehr davon wissen. Ich habe meinem Vater klipp und klar gesagt, dass ich nichts mehr über den Alten schreiben werde, weil es nichts zu berichten gibt.«

  »haere maipea koe i te kainga i a Te Arahori?«, ertönte Matuis spöttische Stimme.

  Ben sah den Maori, der nun auf die Veranda getreten war, mit großen Augen an und antwortete ihm etwas auf Maori. Dabei sprach er mit Händen und Füßen und rollte gefährlich die Augen.

  Vivians Blicke wanderten neugierig zwischen den beiden hin und her.

  »Darf ich auch erfahren, wovon die Herren reden?«

  »Er glaubt, ich spreche mit doppelter Zunge, aber das stimmt nicht. Nach dem Zwischenfall im Hotel musste ich mich entscheiden: Will ich die Geschichte oder eine weitere Verabredung mit Ihnen? Und da habe ich mich doch für Letzteres entschieden.«

  »Und das soll ich Ihnen glauben? Sie haben mich verfolgt, Sie haben versucht, mich auszuhorchen, Sie haben mich belogen, dass Sie zufällig in Whangarei seien. Dabei hat Sie Ihr Vater, der Verleger, geschickt.«

  Ben warf Matui einen flehenden Blick zu und sprach ihn noch einmal auf den Maori an. Der Alte rollte die Augen und verkündete versöhnlich: »Vivian, er sagt die Wahrheit. Jedenfalls dieses Mal.«

  »Woher willst du das wissen?«

  »Er hat bei seinen Ahnen geschworen«, knurrte Matui und verschwand im Haus.

  »Und was heißt das?«, hakte Vivian nach.

  »Dass ich mich hüten würde, meine Ahnen zu zitieren, um in ihrem Namen zu lügen.«

  Vivian stöhnte auf. »Ja und? Was ändert das? Meinen Sie, das genügt, um mich davon zu überzeugen, noch einmal mit Ihnen auszugehen?«

  Ben räusperte sich verlegen. »Ich will Sie ja gar nicht zu einem Essen einladen oder so. Ich dachte, Sie wollen später einmal Reporterin werden, und nun ist in Russell eine teilweise mumifizierte Leiche gefunden worden. Und da dachte ich, vielleicht hätten Sie Lust, mich dorthin zu begleiten. So kann ich meinem Vater wenigstens etwas bieten.«

  Vivians Augen begannen zu leuchten. »Das ist natürlich etwas völlig anderes.« Und schon war sie aufgesprungen. »Ich sage nur Matui Bescheid.« Dass sie sich auch noch umziehen würde, verschwieg sie ihm.

  Der alte Maori war gar nicht begeistert, als sie ihm von ihren Ausflugsplänen berichtete. Dass es sie aus purer Sensationsgier und wegen einer Leiche nach Russell zog, verschwieg sie ihm lieber. Schließlich kannte sie seine Abneigung gegen die Neugier der Zeitungsleute.

  »Ich wollte dir eigentlich weitererzählen«, sagte er mit einem beleidigten Unterton.

  »Das kannst du doch heute Abend nachholen. Es ist eine einmalige Gelegenheit, dass ich mir ein eigenes Bild von der Bay of Islands machen kann. Ach, Matui, ich will die Bucht doch endlich mit eigenen Augen sehen.« Vivian hatte vor Aufregung gerötete Wangen bekommen.

  »Meinetwegen, aber ich kann dir nicht versprechen, dass ich dann noch Lust habe, dir weiterzuerzählen.« Er klang gekränkt.

  »Ach, Onkel Matui!«, lachte sie und küsste ihn übermütig auf beide Wangen.

  Er war so überrascht von ihrer stürmischen Zärtlichkeit, dass er sich ein Lachen nicht verbeißen konnte.

  »Tamakine, dazu bin ich dann doch wirklich zu alt. Ich meine nicht für den Kuss, aber für den Onkel. Da liegen doch ein paar Generationen mehr zwischen uns ...«

  »Also gibst du zu, dass ich mit dir verwandt bin.«

  »Na, wenn du das noch nicht gemerkt hast ... Du siehst aus wie sie, du lachst wie sie ...« Er stockte.

  »... aber ich werde ein glücklicheres Leben führen. Das verspreche ich dir. Und ich werde mich auch nicht von dem schrecklichen Bischof ins Verderben stürzen lassen, der von seiner unmenschlichen Art her ganz und gar nach seinem Urgroßvater Walter schlägt.«

  »Er ist dein Vater«, widersprach Matui schwach.

  »Nein, er hat meine Mutter verführt und sie dann sitzen gelassen. Mir bedeutet er gar nichts, und das beruht auf Gegenseitigkeit. Und daran wird sich nichts ändern.«

  »Warte ab, bevor du ein endgültiges Urteil abgibst. Er ist verblendet, sicher, aber er leidet doch am meisten unter sich selbst.«

  »O nein, Matui, leiden tun andere. Wie kann ein Mann ein fremdes Kind als sein eigenes ausgeben und das eigene verleugnen ... ?« Sie unterbrach sich rasch. Das hatte sie ihm natürlich nicht verraten wollen. »Ich meine, wie er ein Kind ... ein Kind«, stotterte sie.

  »Schon gut, tamahine, ich weiß, dass du Frederik um jeden Preis schützen würdest. Denn du liebst ihn, und ich rechne es ihm hoch an, dass er dir deine Geschichte überlassen hat. Wärst du noch einmal mit ihm zu mir gekommen, ich hätte geschwiegen ...«

  »Aber woher weißt du, dass er ...«

  »Ich bin bereits so alt, dass ich in die Seelen der Menschen blicken kann. Er ist ein guter Mensch, der Lügen im Grunde seines Herzens verabscheut, aber er hadert mit sich, ob er sein bequemes Leben aufgeben soll. Ich habe es vom ersten Augenblick gespürt, dass er nicht zu unserer Familie gehört, während ich meine Hand dafür ins Feuer gelegt hätte, dass du eine Nachfahrin Makeres bist.«

  »Du wirst nichts verraten, nicht wahr?«

  »Ich werde mich hüten. Wenn jemand ein Recht hätte, den Platz als Kind des Bischofs zu beanspruchen, wärst du es...«

  »Ich verzichte«, knurrte Vivian.

  Matui musterte sie prüfend. »Meinst du, der junge Mann dort draußen wird ewig auf dich warten?«

  »Oje, den habe ich ja völlig vergessen!«, rief sie erschrocken aus und rannte in das Zimmer, in dem sie die Sachen aus ihrem kleinen Koffer, den sie eigenhändig den Berg hinausgewuchtet hatte, aufbewahrte. Rasch holte sie eines von den neuen Kleidern hervor, zog sich in Windeseile um und fuhr sich noch einmal durch das glatte kinnlange Haar. Sie hätte gern einen Blick in den Spiegel geworfen, aber so etwas gab es in Matuis Haus nicht.

  »Sie sehen bezaubernd aus«, entfuhr es Ben, kaum dass sie die Veranda betreten hatte.

  Sie lächelte. »Und ich habe gerade bedauert, keinen Spiegel zu haben. So geht es doch auch.« Übermütig hakte sie sich bei ihm unter.

  »War er sehr böse, dass ich Sie entführe?«, fragte Ben, während sie sich auf den Weg durch den Busch nach unten machten, wo der junge Reporter einen Wagen geparkt hatte.

  »Nein, er hätte mir gern mehr spannende Geschichten erzählt. Geschichten, nach denen die Reporter gieren ...« Sie unterbrach sich und blickte ihn grinsend an. »Wollen Sie mich etwa doch ausfragen?«

  »Wenn ich die Absicht hätte, würde meine Frage lauten: Warum sind Sie fluchtartig aus dem Hotel zu dem alten Maori gezogen? In welcher Verbindung stehen Sie zu ihm?«

  Vivian entzog ihm seufzend ihren Arm. »Das verrate ich Ihnen nicht, selbst wenn Sie sich vor mir in den Staub werfen ...«

  »Ich habe gesagt, wenn ich vorhätte, Sie auszufragen, aber das habe ich gar nicht. Mich interessiert an dem alten Maori eigentlich nur noch eines: ob ich ihn um die Erlaubnis bitten müsste, wenn ich Ihnen eines Tages einen Antrag machen würde, oder wer sonst mein Ansprechpartner wäre.«

  Vivian blieb angesichts von so viel Unverfrorenheit der Mund offen stehen.

  »Was ist denn?«, fragte Ben übertrieben unschuldig. »Ich denke, das würden Sie mir dann schon rechtzeitig sagen.«

  »Sie sind unmöglich«, konterte Vivian und puffte ihn scherzhaft in die Seite, bevor sie sich wieder unterhakte.

  »Ich nehme nicht alles zurück, falls Sie das erwarten«, lachte er. »Sie haben es mir ganz schön angetan. Noch niemals hat es jemand geschafft, dass ich einen Artikel habe sausen lassen. Mein Vater wollte mir die Hölle heißmachen, und so kann ich nur von Glück sagen, dass die mumifizierte Leiche aufgetaucht ist. Die ist nämlich ungleich spannender als ein alter Maori, der statt eines Missionars eine Frau schnitzt. Sie wissen aber schon, dass Ihr Kollege vom Herald der Sohn des Bischofs von Auckland ist und dass dieser wiederum ein Urenkel jenes Walter Carrington ist, den Ihr Matui so verteufelt?«

  Vivian sah Ben mit gespielter Überraschung an. »Sie sind ja richtig gut. Nein, das konnte ich doch nicht ahnen. Meinen Sie, ich sollte nach Mister Newmans Abreise auf eigene Faust weitermachen? Wer weiß, was es da noch für Verbindungen gibt. Aber warten Sie mal. Ich erinnere mich da an etwas. Dass Frederik Newman der Sohn von Bischof Newman ist, das sagten Sie bereits, als Sie mich zum Essen eingeladen haben und versuchten, sich vor dem Verleger des Herald großzutun.«

  Ben war abrupt stehen geblieben. »Sie nehmen mich auf den Arm. Aber ganz ehrlich, haben Sie das etwa vorher nicht gewusst?«

  »Nein, und ich will Ihnen endlich die ganze Wahrheit sagen, nachdem Sie meinetwegen auf Ihre Geschichte verzichten. Matui ist ein entfernter Großonkel von mir, den ich vorher aber gar nicht persönlich kannte, nur über Familienlegenden. Sie wissen schon, der Maori-Teil der Familie spinnt ja um jeden seine Legenden ...« Vivian blickte ihn herausfordernd an. »Ich meine, Sie müssten das doch eigentlich aus eigener Erfahrung kennen. Jedenfalls mache ich mir jetzt ein paar schöne Tage dort oben auf dem Berg. Allerdings redet Matui auch nicht mit mir über den seligen Reverend oder gar über jene Frau. Sie würden sich also vergeblich bemühen, wenn Sie mich doch aus dem Grund mitnehmen sollten, um mich geschickt auszuhorchen. Das musste übrigens auch Ihr Kollege vom Herald feststellen. Deshalb ist er abgereist. Und ich bin auch gar keine Kollegin von Mister Newman. Er hat mich angeblich mitgenommen, weil ich doch so gern bei einer Zeitung anfangen würde, aber ich glaube, er hat es nur getan, weil er herausbekommen hat, dass ich mit dem Alten verwandt bin. Zufrieden?«

  Ben strich sich nachdenklich über das Kinn. »Ich glaube, dabei könnte ich Ihnen behilflich sein. Ich meine, bei Ihrem Wunsch, bei einer Zeitung anzufangen.«

  Das klang aufrichtig, und Vivian hatte das Gefühl, von dem jungen Mann nichts mehr befürchten zu müssen. Ganz entfernt meldete sich ihr schlechtes Gewissen, weil sie ihm einen solch ausgemachten Blödsinn auftischte. Und sie hatte von sich immer geglaubt, sie würde die Unwahrheit nicht über die Lippen bringen. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.

  »Darf ich Ihnen noch eine letzte Frage zu dem Herrn vom Her-ald stellen?«, fragte Ben und legte den Kopf schief.

  »Ungern.«

  »Sind Sie in ihn verliebt?«

  Die Frage kam so überraschend, dass Vivian rot anlief.

  »Wie kommen Sie denn auf so einen Quatsch?«, fauchte sie.

  »Gut, dann darf ich Sie bitten, in das Gefährt dort einzusteigen.«

  Sie waren unten an der Straße angelangt, und Ben hatte ihr galant die Beifahrertür geöffnet.

  »Für Sie wahrscheinlich kein ungewohnter Anblick, so ein Wagen, nicht wahr?«

  »Nein, in London gab es mehr als einen auf den Straßen. Und Sie werden lachen. Der Vater meiner Freundin besaß auch so einen. Riley Zehn. Vorkriegsmodell. Richtig?«

  »Miss Taylor, Sie sind umwerfend. Nicht nur schön und klug, nein, Sie kennen sich auch mit Autos aus. Was kann sich ein Mann mehr wünschen?«

  Vivian lachte, doch dann genoss sie die Fahrt durch die fremde Landschaft und konnte sich kaum sattsehen. Sie war ganz froh, dass sich ihr Chauffeur auf das Lenken konzentrierte und sie ungestört den unwirklichen Eindrücken überließ, die dort draußen an ihr vorüberzogen. Das Einzige, was sie bei ihrem Vergnügen störte, waren die vielen Schlaglöcher auf der buckeligen Piste und Bens lautes Fluchen, wenn der Wagen wieder in so einem Loch stecken zu bleiben drohte.

  »Jetzt verstehe ich, warum der alte John vom Hotel gelacht hat, als er meinen Wagen gesehen hat«, schimpfte Ben. »Er hat behauptet, in den Löchern auf den Wegen der Northlands sind schon Pferde samt Wagen versunken.«

  Sie waren bereits über eine Stunde auf einer Schotterpiste entlang der Küste gefahren, als Ben abbog und einer kleineren, kurvenreichen Piste folgte, zu deren linker Seite bewaldete Hügel bis weit ins Land hineinreichten, während rechter Hand hinter jeder Kurve eine ebenso malerische Bucht auftauchte. Weite weiße Strände und grünes Wasser, in dem sich die Sonnenstrahlen spiegelten, so weit das Auge reichte. Vivian blinzelte gegen die Sonne und musste wegen des Fahrtwindes ihren Hut festhalten. Sonst wäre er ihr vom Kopf geweht worden, aber dieser Luftzug tat gut. Vivian spürte, wie die salzige Brise, die vom Meer kam, angenehm auf ihrem Gesicht prickelte. Abgesehen von Bens anhaltendem Fluchen war es ein herrliches Erlebnis, im Wagen diese Strecke entlangchaufFiert zu werden.

  »Sehen Sie mal, da ist Russell!«, erklärte Ben, als vor ihnen ein Ort auftauchte. Vivians Herzschlag beschleunigte sich spürbar. Das also war der Höllenschlund des Pazifiks, ging es ihr durch den Kopf, aber sie versuchte ihre Aufregung zu verbergen. Ben sollte nicht merken, dass sie viel mehr über diesen Ort wusste, als er ahnte. Allerdings war sie ein wenig enttäuscht, dass so gar nichts an die ehemals wilden Zeiten erinnerte. Im Gegenteil, Russell war ein verschlafenes kleines Nest. Kein Wunder, dachte sie, es wurde ja damals bis auf die Grundmauern niedergebrannt und die Bewohner nach Auckland gebracht. Nur noch wenige Gebäude erinnerten sie an Matuis Beschreibung. Besonders die alte Kirche, auf deren Friedhof Matui, hinter einem Grabstein versteckt, einst Zeuge der Kämpfe geworden war.

  »Sie müssen wissen, dies ist die Wiege des heutigen Neuseelands«, erklärte ihr Ben. »Der Ort war einst, in den Achtzehnhun-dertdreißigerjahren, ein berüchtigter Flecken Erde, an dem das wilde Leben tobte. Walfänger, entflohene Strafgefangene und allerlei Abschaum trieben hier ihr Unwesen. Charles Darwin hätte bei einem Besuch dieses Ortes im Jahr achtzehnhundertfünfunddreißig beinahe an seiner Evolutionstheorie gezweifelt. So sehr schockte ihn die Mischung aus käuflichen Damen, entflohenen Strafgefangenen und grobschlächtigen Walfängern. Damals hieß der Ort noch Kororareka.«

  Genau, und damals hatte er den Beinamen Höllenloch des Pazifiks, setzte sie in Gedanken hinzu.

  Ben parkte den Wagen vor einem weißen Holzhaus mit einer großen Veranda. Das heruntergekommene Gebäude sah sehr alt aus. Ob es das berüchtigte Hotel Kororareka ist, in dem die hübscheren Maori-Mädchen auf ihre Freier gewartet haben?, fragte sich Vivian.

  »Schauen Sie! Dort drüben auf der anderen Seite liegt Paihia! Und sehen Sie das Haus rechter Hand in der benachbarten Bucht ?«

  Vivian nickte.

  »Das ist das berühmte Versammlungshaus. Dort wurde zwischen den Briten und den Häuptlingen der Northlands der Vertrag von Waitangi geschlossen.«

  Ich weiß, auch Hone Heke hat ihn damals unterzeichnet, dachte Vivian, aber sie behielt ihr Wissen für sich und blickte sich statt-dessen verwundert um. Der Ort wirkte wie ausgestorben.

  »Wo haben sie denn nun die Leiche gefunden?«, fragte sie ungeduldig.

  »Das wüsste ich auch gern«, erwiderte er und sah sich ebenfalls um. »Ich sollte mal jemanden fragen, aber wen?«

  In diesem Augenblick kam ihnen eine Gruppe von bärtigen, grimmig dreinblickenden Männern entgegen. Ihrer Kleidung nach zu urteilen, waren es Fischer.

  Ben straffte die Schultern und trat auf sie zu. »Ich suche das Haus, in dem sie die Leiche gefunden haben«, erklärte er freundlich.

  Einer der Männer deutete nach Norden in Richtung des Berges, der sich hinter der Stadt erhob.

  »Sie sind alle drüben in Oneroa«, fügte ein anderer hinzu. Dann trotteten die Männer weiter, als ob sie das alles gar nichts anging.

  Doch dann drehte sich einer von ihnen um und rief ihnen zu: »Da kommen Sie mit dem da nicht hin!« Er deutete auf den Wagen. »Ein Wunder, dass Sie es überhaupt bis hierher geschafft haben. Na ja, es regnet nicht. Dann wären Sie mit Sicherheit stecken geblieben. Sie müssen dem Weg folgen, sich dann rechts halten, den kleinen Hügel überqueren, dann kommen Sie am Strand raus. Und dort in einem verfallenen Haus haben sie ihn gefunden.«

  »Ihn?«, hakte Ben nach.

  »Na ja, eine Frau ist es offenbar nicht. Bei der Größe«, erwiderte der Fischer grinsend und wandte sich grußlos wieder den anderen zu.

  Ben stöhnte laut auf. »Das hat mir noch gefehlt. Eine Wanderung zu machen bei der Hitze.«

  »Ich denke, Sie machen für eine gute Reportage alles«, scherzte Vivian.

  »Na, dann kommen Sie.« Er blickte an ihren Beinen hinunter und stieß einen anerkennenden Pfiff aus. »Sie sind auch noch eine praktische Frau, denn Sie haben die richtigen Schuhe an. Alle Achtung.«

  Der Weg am Wasser entlang war angenehm, denn hier wehte eine leichte Brise zu ihnen herüber. Vivian blickte immer wieder nach rechts. Vielleicht stand dort noch das Haus der Hobsens, doch da fiel ihr ein, dass dieses ja an jenem Märztag einer schrecklichen Explosion zum Opfer gefallen war. Irgendwie wirkte alles ausgestorben. Vivian konnte sich kaum vorstellen, dass an diesem Ort einmal das Leben getobt hatte.

  Am Fuß des Hügels stand eine ganze Reihe von Pferdewagen.

  »Die sind offenbar allesamt auf dem Gaul über den Berg geritten«, bemerkte Ben verächtlich, bevor sie sich auf den Weg durch dichten Busch den Hügel hinaufmachten.

  Genau wie der Fischer ihnen beschrieben hatte, trafen sie auf einen Strand. Vivian überlegte, wo in Matuis Geschichte von Oneroa die Rede gewesen war, und als sie die Reihe von Strandhäusern erblickte, fiel es ihr wieder ein. Hier, weit genug vom Ort entfernt, hatte Mister Hobsen sein verrufenes Zweithaus besessen, in dessen anliegenden Hühnerstall er einst Matui eingesperrt hatte.

  Es war unschwer zu erkennen, in welchem Haus man den mumifizierten Toten gefunden hatte. Davor standen Mengen von Gaffern. Kein Wunder, dass es auf der anderen Seite völlig menschenleer ist, dachte Vivian.

  Ben fasste sie bei der Hand und drängelte sich durch die Menge nach ganz vorn. Dort gab es eine Absperrung, hinter der Polizisten geschäftig hin und her liefen.

  Vivian blickte sich um. Neben Schaulustigen aus Russell schienen sich hier sämtliche Reporter des Landes versammelt zu haben. Sie trugen alle ähnliche Anzüge und Hüte, hatten Schreibblöcke in der Hand und tauschten sich eifrig aus. In dem Gemurmel konnte man kaum ein Wort verstehen, doch dann hörte Vivian den Namen Hobsen heraus und lauschte angestrengt dem Gespräch zwischen zwei Zeitungsmännern.

  »Ja, das Haus gehörte einem Mister Hobsen, der vor dem Fahnenmastkrieg in Russell gelebt hat und sich dieses Strandhaus gebaut hat.«

  »Und warum ist es so verfallen?«

  »Der Mann ist bei einer Explosion umgekommen, aber ein alter Mann aus Russell behauptet, der Schwiegersohn von Mister Hobsen sei Jahre später extra aus Wanganui gekommen, um das Haus zu verkaufen, doch als der Kaufinteressent aus Whangarei sich mit ihm zum vereinbarten Zeitpunkt treffen wollte, sei er nicht erschienen und blieb seitdem spurlos verschwunden.«

  »Ach, das ist ja interessant. Und könnte der Tote nicht jener Mann sein, der damals verschwunden ist?«

  »Mal sehen. Die Polizei wird gleich eine Erklärung zum Fund des Mumifizierten abgeben.«

  Vivian klopfte das Herz bis zum Hals. Der ungeheuerliche Verdacht, der sie nun mit Macht überfiel, wollte ihr schier die Kehle zuschnüren. Wenn sie die beiden Männer richtig verstanden hatte, war Henry nach Russell gekommen, um das Haus zu verkaufen und dann verschwunden. Was, wenn er der Tote war, und was, wenn Matui ihn hier aufgespürt und umgebracht hatte?

  »Was machen Sie denn hier?«, riss eine empörte Frauenstimme sie aus ihren Gedanken.

  »Sie assistiert mir«, erwiderte Ben knapp. Vivian blieb stumm vor Schreck.

  Isabel musterte sie durchdringend. »Sie wissen schon, dass Bischof Newman nicht erfreut darüber ist? Frederik hätte Sie nie allein in den Northlands zurücklassen dürfen. Er spielt mit dem Gedanken, Sie höchstpersönlich in sein Haus zurückzuholen. Sie sind gerade mal achtzehn Jahre alt und können doch nicht einfach tun und lassen, was Sie wollen. Er ist Ihr Vormund. Schon vergessen?«

  »Die junge Dame steht unter meinem Schutz«, mischte sich Ben ein. Er hatte bei Isabels Worten, die verrieten, was er um keinen Preis hatte erfahren sollen, nicht die Miene verzogen.

  »Ich glaube nicht, dass das den Vormund der jungen Dame sonderlich beruhigen wird«, entgegnete Isabel spitz. »Aber da kommt ja auch Frederik. Der wird sicher ein Machtwort mit ihr sprechen.« Sie winkte eifrig und rief durch die Menge: »Liebling, hier sind wir!«

  Als Frederik auf sie zutrat und Ben erblickte, verdüsterte sich sein Gesicht.

  »Was machen Sie denn hier?«

  »Offenbar dasselbe wie Sie«, entgegnete Ben knapp.

  Dann erst wandte sich Frederik Vivian zu. »Ich muss dich dringend sprechen, und zwar unter vier Augen.«

  »Schlechter Zeitpunkt«, bemerkte Ben bissig und deutete auf den Polizisten, der sich jetzt an die Reporter wandte.

  »Wir haben in einem verfallenen Nebengebäude dieses Hauses die teilweise mumifizierte Leiche eines Mannes gefunden. Aufgrund des Zustandes seines Armknochens müssen wir davon ausgehen, dass es sich um Fremdeinwirkung gehandelt hat. Ob das zum Tod geführt hat, können wir nicht mit Sicherheit sagen. Der Zustand des Leichnams ist ein Wunder. Wir können uns das nur damit erklären, dass der einstige Stall aus Stein erbaut ist und der Körper auf dem kalten Boden in einem austrocknenden Luftzug gelegen hat. Deshalb haben wir ihn auch noch nicht geborgen, weil sich die Wissenschaftler noch darüber streiten, wie man ihn unversehrt nach Auckland transportieren kann. Wir haben keine hundertprozentige Sicherheit über die Identität des Toten, doch wir müssen annehmen, dass es sich um einen Geschäftsmann aus Wan-ganui handelt. Sein Name ist Henry Carrington. Dieser Mann kam im Jahr achtzehnhundertdreiundsechzig, also vor fast sechzig Jahren, nach Russell und übernachtete, wie uns der Sohn des damaligen Besitzers, Mister Dorson, versicherte, in dem einzigen Hotel vor Ort. Er wollte ein Strandhaus in Oneroa verkaufen. Mister Dorson, der damals noch ein Kind war, hat den möglichen Käufer sogar noch dorthin geführt, doch Mister Carrington ist nicht erschienen. Und er hat auch sein Gepäck nie abgeholt. Mister Dorsons Vater meldete den Vorfall damals der Polizei, doch aufgrund der Aussage der Ehefrau von Mister Carrington war davon auszugehen, dass der Mann sich nach England abgesetzt hatte. Nun müssen wir vermuten, dass er das wohl doch nicht getan hat, sondern hier, auf welche Weise auch immer, sein Leben verloren hat. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.«

  Vivian war speiübel. Ohne Vorwarnung entfernte sie sich aus der Menge und lief hinunter zum Meer. Dort nahm sie eine Hand voll Wasser und kühlte damit ihr erhitztes Gesicht, doch Frederik war ihr gefolgt.

  »Vivian? Weißt du etwas darüber? Hat Matui dir irgendetwas über Henrys Schicksal verraten?«

  Vivian musterte ihn spöttisch. »Selbst wenn, dir würde ich das sicher nicht auf die Nase binden. Du weißt doch genug über Henry Carrington. Das wäre in der Tat eine schöne Geschichte. Mumifizierte Leiche - ein Vergewaltiger und Verwandter des Bischofs von Auckland.«

  »Du bist gemein! Du weißt genau, dass ich das nicht schreiben werde. Ich werde mich auf die Aussage der Polizei beschränken. Es waren private Gründe, warum ich gefragt habe. Du siehst nämlich aus wie der Tod, und das bereitet mir Sorge. Und auch, dass du im Schlepptau dieses schleimigen Kerls hier auftauchst.«

  »Glaubst du, mir passt es, wenn ich mich von deiner Isabel bedrohen lassen muss, dass der Bischof mich holen will?«

  Frederik stöhnte auf und legte seine Stirn in Falten. »Vivi, bitte lass uns nicht länger streiten, aber sie hat recht. Vater hat vor Wut getobt, als ich ohne dich nach Auckland zurückgekehrt bin. Ich befürchte, es wird nicht so einfach für dich sein, ungehindert nach England durchzubrennen.«

  »Das ist auch gar nicht mehr mein Plan«, erwiderte Vivian schnippisch. Etwas versöhnlicher fügte sie hinzu: »Ich werde vorerst in diesem Land bleiben. Es gibt noch so viele offene Fragen, und ich kann mich meiner Begeisterung für Neuseeland nicht entziehen.«

  »Das hat aber nichts mit dem Kerl zu tun, oder?«, fragte Frederik in scharfem Ton.

  »Nein, eher mit dem alten Mann auf dem Berg. Ich muss akzeptieren, dass meine Wurzeln hier sind, womit ich allerdings weniger den Bischof meine als meine Verwandtschaft mit Maggy, wie die auch immer geartet sein mag. Du weißt doch, Matui hat seine eigene Erzählweise.«

  Frederik lachte. »Das kann man wohl sagen. Was hat er überhaupt dazu gesagt, dass ich nicht mehr mitgekommen bin?«

  »Er wusste vom ersten Augenblick an, dass du nicht der leibliche Sohn des Bischofs bist.«

  Frederik erstarrte. »Er weiß davon? Und was, wenn er es weitersagt?«

  »Du denkst wirklich nur an deine Karriere, nicht wahr? Aber du kannst dir sicher sein, dass Matui nichts fernerliegt als das. Jetzt jedoch rate ich dir, nicht ganz so verbissen zu gucken. Sie kommen.«

  Kaum dass sie das ausgesprochen hatte, setzte Vivian ein gespieltes Lächeln auf, weil Isabel und Ben mit gleichermaßen finsteren Mienen auf sie zutraten.

  »Hast du ihr endlich in aller Deutlichkeit gesagt, dass dein Vater sie holen kommt, wenn sie nicht freiwillig in sein Haus zurückkehrt?«, fragte Frederiks Verlobte in scharfem Ton.

  »Ja, hat er, aber liebe Isabel, sobald der Bischof in Whangarei auftaucht, werde ich fort sein. In das ungastliche Haus setze ich keinen Fuß mehr. Vormund hin oder her«, konterte Vivian nicht minder schroff.

  »Stellen Sie sich das mal nicht so einfach vor, der Arm des Bischofs reicht auch bis in die Northlands.«

  »Oh, da zittere ich aber, und ich finde es brav von Ihnen, wie Sie sich schon jetzt zum Sprachrohr Ihres künftigen Schwiegervaters machen.«

  »Vivian, bitte!«, ermahnte Frederik sie gequält. »Mit Vater ist wirklich nicht zu spaßen. Er ist fest entschlossen, dich zurückzuholen.«

  »Na und?«, entgegnete Vivian betont trotzig, während ihr in Wirklichkeit mulmig zumute war bei der Vorstellung, der Bischof könne sie zwingen, in seinem Haus zu leben.

  »Ich glaube, Vivian hat nichts zu befürchten. Für dieses kleine Problem finden wir schon eine angemessene Lösung«, bemerkte Ben in süffisantem Ton.

  Vivian sah ihn verblüfft an, während Isabel sich kühl verabschiedete und ihren Verlobten am Arm mit sich fortzog, wogegen er sich nicht einmal zur Wehr setzte.

  Vivian aber hatte den Blick immer noch auf Ben geheftet. »Das war alles nicht für deine ... ich meine Ihre Ohren ...«

  »Deine!«

  »Gut, das war nicht für deine Ohren bestimmt, aber nun weißt du es ja. Ich bin eine entfernte Verwandte des Bischofs, die nach dem Tod ihrer Mutter nach Neuseeland geschickt wurde. Er ist mein Vormund. Allerdings war es keine erfreuliche Begegnung. Ich mag den Mann nicht und der Mann mich nicht. So habe ich die Chance ergriffen, mit seinem Sohn Frederik, dem einzig netten Familienmitglied, in die Northlands zu flüchten, um dieser Geschichte nachzugehen. Und jetzt willst du sicher wissen, wie der alte Maori da hineinpasst. Das ist ganz einfach. Er glaubt, in mir seine längst verstorbene Schwester wiederzuerkennen, und hat mir netterweise ein Dach über dem Kopf gegeben, da ich nicht beabsichtige, in das Haus des Bischofs zurückzukehren. Aber der Maori ist nicht mehr ganz bei Trost. Er soll ja auch schon steinalt sein. Reicht dir das? Und noch was. Ich habe dich beschwindelt, als ich behauptete, dass der Maori mit mir verwandt ist. Das stimmt nicht. Aber jetzt kennst du die ganze Geschichte.« Vivian wunderte sich sehr darüber, dass sie nicht wenigstens rot anlief. Sie verabscheute Lügen, aber um ihre und Matuis Wahrheit zu schützen, würde sie noch ganz andere Märchen erfinden.

  Zu ihrer großen Verblüffung grinste Ben breit. »Schön, dass du mir gleich dein ganzes Leben erzählt hast. Dabei interessiert mich nur noch eines an der Geschichte mit dem alten Maori. Ich muss also nicht ihn, sondern den Bischof um deine Hand bitten, wenn er kommt, um dich zu holen.«

  »Wie bitte?« Vivian glaubte, sich verhört zu haben.

  »Ich sagte, dann weiß ich ja endlich, bei wem ich um deine Hand anhalten muss.«

  »Wie kommst du ... ich meine, wollen Sie, ich meine du, damit sagen, dass du ...«, stammelte Vivian.

  »Ja, ich will damit sagen, dass es für deinen Schlamassel nur eine Lösung gibt. Mich zu heiraten.«

  »Aber ich kenne dich doch nicht, ich meine ...«

  »Du hast recht. Normalerweise wäre ich noch ein paarmal mit dir ausgegangen und hätte dich zumindest geküsst.«

  Kaum hatte er den Satz vollendet, da beugte er sich zu ihr hinunter und gab ihr einen Kuss auf den Mund. Ohne sich um ihre offensichtliche Fassungslosigkeit zu kümmern, sagte er: »Normalerweise hätte ich dich richtig geküsst, aber mir bleibt in diesem Fall keine Zeit zum Zaudern ...«

  »Ben, jetzt hör endlich auf! Was bildest du dir eigentlich ein?«, unterbrach Vivian ihn, kaum dass sie die Sprache wiedergefunden hatte.

  »Ich will dir doch nur helfen«, erwiderte er mit sanfter Stimme.

  »Das wird ja immer schöner!«, fauchte Vivian.

  »Nun lass es mich doch wenigstens erklären. Also, du willst nicht mehr in das Haus des Bischofs zurück. Da du aber noch nicht volljährig bist, kann er dich auch gegen deinen Willen zurückholen. Er mag dich aber offenbar auch nicht besonders und würde dich lieber loswerden. Was kann ihm da Besseres geschehen, als dass Ben Schneider, ein wohlhabender und gesellschaftlich anerkannter Sohn Wanganuis, dich ihm abnimmt? Und was kann dir in deiner Lage Schöneres passieren, als dass der charmante und gut aussehende Reporter Ben Schneider dir einen Heiratsantrag macht und eine Stellung bei der Zeitung seines Vaters anbietet?«

  Vivian war hin- und hergerissen zwischen Empörung und Amüsement.

  »Du bist ja gar nicht eingebildet«, bemerkte sie kopfschüttelnd.

  »Ich habe mich auf den ersten Blick in dich verliebt und bei mir gedacht: Ben, das ist die Frau, mit der du den Rest deines Lebens verbringen willst.«

  Ehe sie sich's versah, hatte er sie in die Arme genommen und drückte sie zärtlich an sich. Ihr wurde wider Willen ganz heiß. Es war kein unangenehmes Gefühl. Zwar verursachte ihr diese Umarmung kein Herzflattern und weiche Knie wie bei Frederik, aber es rührte sie zutiefst, dass er sie wirklich zur Frau nehmen wollte. Fred hatte doch nur mit ihr gespielt, während Ben offenbar ehrliche und ernsthafte Absichten hegte. Und sie konnte nicht leugnen, dass sie den attraktiven Reporter wirklich mochte. Außerdem floss zur Hälfte Maori-Blut durch seine Adern. Genau wie bei ihr.

  Vivian befreite sich sanft aus der Umarmung. »Gibst du mir Bedenkzeit?«, fragte sie heiser.

  »Natürlich, Vivian, alle Zeit der Welt... ich meine, so lange, bis dein Vater hier aufkreuzt. Dann solltest du spätestens Klarheit haben über das, was du willst.«

  Als sich ihre Blicke trafen, wusste Vivian, dass sie sich in diesen Mann verlieben könnte, und zwar dann, wenn sie sich Frederik Newman aus dem Herzen gerissen hatte.

  »Lass uns fahren, du musst ja sicher noch deinen Artikel schreiben«, sagte sie hastig, um ihm keine Gelegenheit zu geben, womöglich ihre geheimsten Gedanken zu erraten.

  »Du hast wie immer recht. Ich muss ihn nicht nur schreiben, sondern auch noch meinem Vater telegrafieren.«

  »Was wirst du ihm dazu sagen, dass du noch in Whangarei bleibst?«

  »Die Wahrheit. Dass ich die Frau meines Lebens getroffen habe und bei ihrem Vater um ihre Hand anhalten werde.«

  »Und du meinst, das nimmt er so hin?«

  »Mein Vater ist geradezu versessen darauf, dass ich solide werde. Er hat von meinem Lebenswandel nie viel gehalten.«

  »Willst du damit sagen, dass du ein Frauenheld bist?« Vivian lachte.

  »War... ich war ein Frauenheld«, flüsterte er und küsste sie leidenschaftlich. Dieses Mal erwiderte sie seinen Kuss. Als sich ihre Lippen voneinander lösten, war sie sich so gut wie sicher, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis ihr Herz für ihn schlagen und sie Fred vergessen haben würde.

  Hand in Hand schlenderten sie zum Wagen zurück. Auf der Rückfahrt sprachen sie kaum ein Wort miteinander. Vivian war viel zu sehr mit ihren Gedanken beschäftigt, und je länger sie unterwegs waren, desto größeren Gefallen fand sie an der Vorstellung, Ben Schneider zu heiraten.

  Doch als sie sich Whangarei näherten, wanderten ihre Gedanken auf einmal zu dem alten Mann auf seinem Berg. Wenn der mumifizierte Tote im zusammengefallenen Stall in Oneroa wirklich Henry Carrington war, konnte es dann überhaupt noch einen Zweifel daran geben, dass Matui ihn umgebracht hatte? Und würde der alte Maori ihr je davon erzählen, oder würde er diesen Teil der Geschichte einfach auslassen?

  Vivian nahm sich fest vor, ihn nicht danach zu fragen, sondern geduldig abzuwarten, ob er ihr seine Tat eines Tages beichten würde. Obwohl sie vom Herzen her durchaus Verständnis dafür aufbringen konnte, ein Mord würde diese Tat trotzdem bleiben! Daran gab es nichts zu rütteln. Und Mord war etwas, das sie aus tiefster Seele verabscheute.

 

 

Der Schwur des Maori-Mädchens
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